Wissenschaftshistoriker Mathieu Ossendrijver vom Exzellenzcluster Topoi  und Ägyptologe Andreas Winkler von der Universität Oxford zeigen, dass ägyptische Astronomen den Lauf des Merkur mit babylonischen Methoden berechneten

Press release, June 04, 2018

Ägyptische Astronomen berechneten die Bewegung des Planeten Merkurs mit Methoden, die aus Babylonien stammen, und zwar früher als bisher angenommen. Das zeigt erstmals eine Analyse von zwei altägyptischen Inschriften auf Tonscherben, sogenannten Ostraka, aus dem Ashmolean Museum in Oxford durch den Wissenschaftshistoriker Prof. Mathieu Ossendrijver (Exzellenzcluster Topoi) und den Ägyptologen Dr. Andreas Winkler (Oxford University). Die Texte wurden ca. 1-50 n. Chr.  in der demotischen Sprache, einer späten Stufe des Altägyptischen, verfasst. Es handelt sich dabei um die ersten Recheninstruktionen aus der babylonischen Astronomie, die überhaupt aus Ägypten bekannt sind.

Die Instruktionen befassen sich mit der Himmelsposition des Planeten Merkur und stimmen mathematisch exakt überein mit Verfahren, die einige Jahrhunderte zuvor, 300-100 v. Chr, erstmals in Babylonien angewandt wurden. Allerdings  benutzen die Verfasser der ägyptischen Texte ein alternatives Rechenverfahren, das aus Babylonien nicht bekannt ist: Sie hatten es entweder aus einer bislang noch unbekannten Quelle übernommen oder selbst aus den babylonischen Verfahren entwickelt. Die Texte beweisen, dass ägyptische Gelehrte noch vor ihren griechischen Kollegen über eine mindestens ebenso gute Kompetenz in babylonischer Astronomie verfügten.

Ägyptisches Ostrakon (Ashm. Dem. 483) mit Berechnung der Positionen des Merkur nach babylonischem Verfahren (courtesy Ashmolean Museum Oxford)

Ägyptisches Ostrakon (Ashm. Dem. 483) mit Berechnung der Positionen des Merkur nach babylonischem Verfahren (courtesy Ashmolean Museum Oxford)

Ab rund 150 v. Chr. verbreiteten sich babylonische Astrologie und Astronomie in Ägypten. Ägyptische Astrologen begannen, wie ihre Kollegen in Babylonien gut 200 Jahre zuvor, Horoskope zu erstellen, um das Schicksal von Neugeborenen zu bestimmen. Es sind sowohl Horoskope in demotischer – also altägyptischer – Sprache, als auch in Altgriechisch überliefert. Die Erstellung eines Horoskopes erforderte eine Berechnung der Tierkreispositionen von Mond, Sonne und der fünf damals bekannten Planeten: Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Über die Rechenmethoden, die die ägyptischen Astrologen hierzu verwendeten, war bisher nur wenig bekannt. Der amerikanische Astronomiehistoriker Alexander Jones wies 1999  nach, dass die griechischsprachigen Astrologen Ägyptens häufig babylonische Verfahren benutzten. Der niederländische Mathematiker Bartel van der Waerden konnte 1972 für eine einzige Tabelle in demotischer Sprache zeigen, dass die darin enthaltenen Positionen von Mars und Jupiter wahrscheinlich mit babylonischen Verfahren berechnet wurden.

Die zwei neu entdeckten demotischen Texte mit Recheninstruktionen werfen nun ein neues Licht auf die mathematische Kompetenz der ägyptischen Astrologen. Beide Tonscherben enthalten Anweisungen für drei unterschiedliche babylonische Verfahren. Jedes davon ist einem bestimmten Phänomen von Merkur gewidmet: seiner ersten Sichtbarkeit als Abendstern, seiner ersten Sichtbarkeit als Morgenstern und seiner letzten Sichtbarkeit als Morgenstern. Die Inschriften beweisen erstmals eindeutig, dass ägyptische Astrologen in der Lage waren, für Merkur, einem Planeten mit einer vergleichsweise komplizierten Bewegung, nach babylonischen Verfahren Tierkreispositionen zu berechnen. Außerdem ist es – nach der Analyse der Tonscherben – sogar wahrscheinlich, dass die ägyptischen Gelehrten das Verfahren vor ihren griechischsprachigen Kollegen oder zumindest unabhängig von deren Rezeption adaptierten. Denn zum einen sind die beiden nun neu entzifferten Ostraka früher entstanden als die bekannten Tabellen für Merkur in altgriechischer Sprache, die auf diesen Verfahren basieren und es sind insgesamt die bislang ersten Recheninstruktionen nach babylonischen Verfahren, die überhaupt aus Ägypten bekannt sind. Zum Zweiten benutzten die Verfasser der Ostraka ein babylonisches Lehnwort für “Grad”, während es im Altgriechischen hierfür ein eigenes Wort gab.

Ein überraschender Aspekt der beiden Texte ist, dass sie alternatives mathematisches Verfahren verwenden, das aus Babylonien selbst nicht überliefert ist. Während die Babylonier den variablen Abstand, den Merkur entlang des Tierkreises zurücklegt, zum Beispiel zwischen zwei Ereignissen seiner ersten Sichtbarkeit als Abendstern, direkt berechnen, teilen die ägyptischen Astrologen den Tierkreis zuerst in kleine Schritte von variabler Länge ein. Den von Merkur zurückgelegten Abstand erhalten sie durch das Abzählen einer festen Anzahl dieser Schritte, mit einem identischen Ergebnis wie bei der babylonischen Berechnungsweise. Der Mathematiker Bartel van der Waerden hatte erstmals 1957 die Existenz dieses alternativen Verfahrens vorgeschlagen. Es wurde aber bisher in keinem babylonischen Text gefunden, dafür jetzt in zwei demotischen Texten, die von ägyptischen Gelehrten verfasst wurden.

 

Literaturangabe

Mathieu Ossendrijver, Andreas Winkler, 2018, Chaldeans on the Nile: Two Egyptian Astronomical Procedure Texts with Babylonian Systems A1 and A2 for Mercury, in: C. J. Crisostomo, E. A. Escobar, T. Tanaka, N. Veldhuis (eds.), The Scaffolding of Our Thoughts: Essays on Assyriology and the History of Science in Honor of Francesca Rochberg, Leiden: Brill, 382–419.

Pressekontakt

Dr. Nina Diezemann, Exzellenzcluster Topoi, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Telefon +45 30 838-73190, E-Mail: nina.diezemann@topoi.org

 

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