Populationsgenetische Studien an Menschen gibt es – zumindest im größeren systematischen Ausmaß – seit den 1950er Jahren. Stark beeinflußt von der New Synthesis of Evolution und in Abgrenzung zu rassentypologischen Methoden, bemühten sich die durchführenden Wissenschaftler um quantifizierend-statistische Methoden und eine streng formale Herangehensweise. Davon zeugen die vielen mathematischen Überlegungen und Modelle, die in diese Studien einfließen, ebenso wie die Einbeziehung neuer genetischer Marker und der Versuch, “Populationen” theoretisch und empirisch zu fassen. Die Erforschung der menschlichen Vielfalt sollte endlich nicht mehr im Rahmen des Rassenparadigmas stehen, sondern sich komplexeren und dynamischeren Konzepten von Vielfalt zuwenden.
Aber auf ein schon im 19. Jahrhundert gut etabliertes Element konnte auch die Humanpopulationsgenetik nicht verzichten: die biohistorische Geschichte ein jeder Population, die als solche untersucht werden sollte. Diese biohistorischen Narrative – z.B. zur Geschichte der Juden, der Basken, der Isländer – machten bereits vor der Jahrhundertmitte einen wichtigen Bestandteil jeder Rassentheorie und jeder wissenschaftlichen Beschäftigung mit Rasse oder Vielfalt aus. Sie gehörten zum kulturellen Repertoire der sich selbstverständigenden europäischen Gesellschaften und fanden breiten Niederschlag in sämtlichen Disziplinen, die sich mit der Entstehung und Geschichte bestimmter Gruppen oder Kulturen beschäftigten.
Erstaunlich ist weniger die Tatsache, daß die Populationsgenetik nicht ohne Narrative auskommt. Eine Wissenschaft, die sich die Aufklärung der Evolution der Menschheit zur Aufgabe macht, muß notgedrungen narrativ vorgehen. Überraschend ist vielmehr, wie bereitwillig die überlieferten Narrative aufgegriffen und mit welch geringer kritischer Distanz sie weiterverwendet wurden.
Biohistorische Narrative, so meine These, integrieren in der Regel mehrere von vier verschiedenen Momente: Die Isolation einer Gruppe, die gleichzeitig als ihr Ursprungs-Nullpunkt interpretiert wird; die Migration einer Gruppe; die Adaption an einen neuen Lebensraum oder neue Lebensbedingungen; und die Begegnung mit anderen Gruppen. Ein wesentliches Plausibilisierungsinstrument dieser Narrative ist die Wanderungskarte, die bis heute populationsgenetische Studien begleitet.
Der Vortrag wird diese Zusammenhänge am Beispiel von populationsgenetischen Studien zu Europäern illustrieren.