Die Geschichte der archäologischen Forschung war seit ihren Anfängen eng verbunden mit der Frage “Wer?”, das heißt, mit der Zuweisung von materiellen Hinterlassenschaften zu wirklichen oder fiktiven “Stämmen” oder “Völkern”. Je nach Land und soziopolitischem Kontext wurden die Überreste aus älteren Zeiten sowohl mit Makrokategorien wie Kelten, Germanen oder Slawen als auch mit kleinere Gruppierungen wie Markomannen, Keltiberer, Westgoten oder Franken in Verbindung gebracht. Die nationalistische und rassistische Instrumentalisierung der Archäologie von Seiten totalitärer Regime führte aber nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer weitgehenden Abkehr von den ethnischen Interpretationen. Es setzte sich eine politisch und ideologisch “neutralere” Archäologie durch, die vor allem den chronologischen Fragestellungen sowie der Beschreibung und Identifizierung von archäologischen Kulturen gewidmet war. Dennoch wurden letztere Entitäten in vielen Fällen implizit weiterhin als ein Spiegelbild ethnischer Einheiten konzeptualisiert.
Ausgehend von der Redefinition des Konzeptes der Ethnizität in der Ethnologie und der Soziologie lässt sich auch in der Archäologie seit den 1990er Jahre ein erneutes Interesse an der ethnischen Fragestellung erkennen. Dafür lassen sich vorwiegend zwei Gründe nennen: Aus einer rein archäologischen Sicht, die Entwicklung der postprozessualen Strömungen mit ihrem verstärkten Interesse an gegenwärtigen und vergangenen Identitäten. Und aus einer breiteren Perspektive, die beachtliche Relevanz, die Phänomene wie Ethnizität, Nationalismus und Immigration in Zeiten wachsender Globalisierung besitzen. Neben den forschungsgeschichtlichen Überblick und der Definition der Grundkonzepte werden im Rahmen des vorliegenden Seminars auch Grenzen und Möglichkeiten einer modernen Archäologie der Ethnizität anhand von konkreten Fallbeispielen aufgezeigt.
Um Anmeldung (M.Fernandez-Gotz@ed.ac.uk) sowie Mitteilung eigener Interessen (Fragen und Themen) wird gebeten. Die zu diskutierenden Texte werden bei der Anmeldung per E-Mail versandt.
DISKUSSIONSTEXTE
Brather, S. (2000): Ethnische Identitäten als Konstrukte der frühgeschichtlichen Archäologie. Germania 78: 139-177.
Derks, T. und Roymans, N. (2009): Introduction. In T. Derks und N. Roymans (Hrsg.), Ethnic Constructs in Antiquity: The Role of Power and Tradition. Amsterdam University Press, Amsterdam: 1-10.
Fernández-Götz, M. (2013): Revisiting Iron Age Ethnicity. European Journal of Archaeology 16 (1): 116-136.
WEITERE LITERATUR
Brather, S. (2004): Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. RGA Ergänzungsbd. 42, Berlin/New York.
Fernandez-Götz, M. (2008): La construcción arqueológica de la etnicidad. Serie Keltia 42. Editorial Toxosoutos, Noia (A Coruña).
Jones, S. (1997): The Archaeology of Ethnicity. Constructing identities in the past and present. Routledge, London/New York.
Rieckhoff, S. und Sommer, U. (Hrsg.) (2007): Auf der Suche nach Identitäten: Volk – Stamm – Kultur – Ethnos. BAR International Series 1705.